Biographien

Hier finden Sie Interviews mit Menschen, denen ich die Frage gestellt habe: „Was bedeutet für dich der Begriff Selbstverantwortung und welchen Einfluss hatte diese Haltung Selbstverantwortung auf dein Leben?“ Um die Persönlichkeit der InterviewpartnerInnen zu schützen, haben wir die Namen nach Wunsch geändert.

Auszug aus meinem Buch „Freiheit macht klug – Selbstverantwortet Leben als Haltung“

Rita ( 57 Jahre) Interview vom 7. Juli 2015

Sylvia: Was hat das Wort Selbstverantwortung mit seiner ganzen Bedeutung in deinem Leben für eine Rolle gespielt und ab wann wurde dir das bewusst?

Rita: Das kann man rückwärts ja erst im Moment des Bewusstwerdens sagen, – aber ich glaube bewusst spätestens seit dem Zeitpunkt, an dem die ganze Familie weg war.

Sylvia: Was meinst du mit „weg war“?

Rita: Meine Eltern haben sich scheiden lassen. Mein Bruder war vorher schon weg, der kam auf ein Internat.

Sylvia: Wie alt warst du da?

Rita: Da war ich sechs. Und gerade in der ersten Klasse. Zuerst war mein Bruder weg, dann kam mein Hund weg. Dann kam ich von H. nach D. zu meinen Großeltern auf eine katholische Schule, das war ganz anders als in H. . Meine Eltern waren erstmal weg.

Sylvia: Weg? Wo waren sie denn?

Rita: Das wusste ich damals nicht. Ich wusste, dass meine Mutter irgendwo auf Wohnungssuche war. Dass sie sich scheiden lassen wollten, wusste ich nicht.

Sylvia: Das hat dir keiner erklärt?

Rita: Nee. Dass mein Vater in H. geblieben ist….mein Bruder war ja schon weg, der Hund auch. Die letzte Trennung war für mich, die von meiner Mutter. Bei meinen Großeltern kam ich auf die neue Schule, und das war ganz furchtbar. Da hatte ich nur Angstzustände. Am ersten Tag kam ich da rein, war natürlich ein bisschen schüchtern, und vorne standen fünf Kinder…die Lehrerin hat mich vorgestellt, dann hat sie einen Stock genommen (lacht), dann haben die fünf Kinder da vorne den Hintern voll gekriegt. Ich habe nicht gewusst, warum und habe dann mitbekommen, die haben ihre Schularbeiten nicht gemacht, oder was nicht gewusst….da war ich erstmal ziemlich geschockt. Dann gab es Nachsitzen. Da habe ich mir gedacht, das ist so richtige Folter, da ist man allein und wird umgebracht. Deshalb war ich superbrav. Eigentlich habe ich immer nur Angst gehabt und hab auch jeden Morgen geweint, immer wenn ich aus der Haustür bin und wollte nicht zur Schule

Sylvia: Und deine Großeltern? Wie war die Bindung da, was haben die gesagt?

Rita: Meine Großmutter hat das Fenster aufgemacht: „Gehst du wohl zu Schule! Gehst du wohl zur Schule!“ Mein Großvater ist irgendwann mal rausgekommen: „Oh, du bist ja noch da? Ich wollte grad Brötchen holen, das ist ja neben der Schule.“ Ich natürlich hinterher. Das hat er eine ganze Weile immer „zufällig“ gemacht. Solange er bei mir war, solange fühlte ich mich geborgen. In der Schule habe ich immer geweint, wenn ich von der Pause wieder rein musste. Eines Tages kam da ein Junge, der hat mich gefragt: „Willst du nicht in die Klasse kommen?“ Und da hat ein Mädchen gesagt, „lass die doch, die heult jeden Tag“. Da habe ich kurz nachgedacht: „Stimmt! Ich weine dauernd. Das bringt ja nichts.“ Da ist es mir bewusst geworden, und ich habe gedacht, so geht das nicht weiter. Ich weine jetzt nicht mehr einfach so. Also das Weinen lass ich schon mal sein. Ich hab gemerkt, wenn ich mir nicht selber helfe, macht es niemand.

Sylvia: Welche Schlüsse hast du aus dieser Erkenntnis gezogen? Welche Auswirkungen hatte das auf dein weiteres Leben?

Rita: Ich habe da auf der Treppe gestanden, das kam ganz blitzartig,- dieser Gedankengang. Ich habe dann gedacht – das klingt jetzt vielleicht komisch – „ich werde nicht mehr „umsonst“ weinen“. Seit diesem Tag habe ich darauf geachtet, dass ich mir die Chancen und die Wünsche, die ich hab, klar mache, und ob ich die Chance habe, den Wunsch umzusetzen. Natürlich habe ich mir meine Mutter gewünscht, hatte aber keine Chance das umzusetzen.

Sylvia: Das ist ja auch ein Trauerprozess. Also hattest du das Gefühl, okay ich muss mein Leben jetzt in die Hand nehmen.

Rita: Ja, das war das Gefühl. Ich kann mich an diesen Moment sehr deutlich erinnern, und weiß daher genau, dass ich das dann getan habe, also, mein Leben in die Hand genommen. Das kam von innen heraus, das Gefühl, ich muss es selber machen. Ich glaube, das habe ich dann auch getan.

Sylvia: Wie hast du es gemacht?

Rita: Also in der Schule konkret, dass ich nicht mehr geweint habe, obwohl ich komplett uninteressiert war. Habe aber nach relativ kurzer Zeit dort eine Position gekriegt, weil ich mehr vorhanden war. Wenn irgendwas war, habe ich gesagt, das ist jetzt ungerecht, das finde ich nicht gut. Also, ich bin aufgetaucht, was ich vorher nicht war. Ich hatte keine Freunde, aber ich war sehr spannend für die anderen. Ich hatte so eine machtvolle Position, wenn ich sie denn genutzt hätte.

Sylvia: Das war wahrscheinlich der Punkt, der dich gestärkt hat. du fühltest Dich unabhängig.

Rita: Genau. Ich war da völlig unabhängig. Ich habe das für mich gemacht. Ich wollte die Schule hinter mich bringen.

Sylvia: Und der Kontakt zu deiner Mutter in der Zeit?

Rita: Ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen zu fragen, können wir mal meine Mutter anrufen, vielleicht die Nummer rauszusuchen. Meine Mutter hat dann irgendwann einen Job gefunden, in der Nähe von Frankfurt und auch eine Wohnung. Da hat aber mein Großvater sich entschlossen, damit ich kein Schlüsselkind werde, und hat gesagt, sie ziehen mit.

Sylvia: Also mit Mutter und Großeltern in einem Haus.

Rita: Das ist Wahnsinn, dass sie in dem hohen Alter noch umgezogen sind. Da wohnten wir dann zu viert, und da habe ich mich auch wieder geborgen gefühlt. Dieses Gefühl des Alleinseins das hat mich trotzdem extrem geprägt, auch umgekehrt: ich lasse heute Menschen, die mir nah sind auch nicht allein.

Sylvia: Wie hast du deine Mutter wahrgenommen? Warst du enttäuscht, hast du ihr das übel genommen?

Rita: Ich habe sie als Opfer wahrgenommen. Ich dachte, die sitzt irgendwo und weint und verzehrt sich genauso nach mir, wie ich mich nach ihr.

Sylvia: Du hast ja dann selber eine Tochter bekommen. Wie hat deine Geschichte sich auf die Beziehung zu ihr ausgewirkt?

Rita: Ich habe noch mehr verstanden von mir als Kind früher, weil ich gesehen haben, wie Kinder sind. Dass ich dann gedacht hab, das mache ich auf keinen Fall, mein Kind alleine lassen, das war mir oberstes Gebot. Ich wollte nicht, dass sie diese Unverbindlichkeit erlebt, die ich erlebt habe, sondern Verbindlichkeit.

Sylvia: Du bist ja schon sehr früh aus dem Nest gepurzelt – gepurzelt worden und hast Wege gefunden, wie du damit umgehst. Da hast du die Erkenntnis gewonnen: Ich kann mich am Besten nur auf mich verlassen. Um den Bogen zu der gelebten Selbstverantwortung zu schlagen……….

Rita: Das kann ich sofort beantworten. Nicht nur, dass das damals die einzig mögliche Lösung war, auch wenn ich es mir anders gewünscht hätte. Aber die Erkenntnis, die dahinter stand, wie toll das ist, wenn ich gesehen habe, wie andere gefangen sind, und ich konnte mich entscheiden, was auch ein Umentscheiden beinhaltet. Das ist so eine Freiheit gewesen, denn ich hatte ja nichts mehr zu befürchten. Daher konnte ich immer selber überlegen, was ich will, und das finde ich heute immer noch wundervoll. Da gibt es immer eine Lösung, mit der ich rund sein kann. Wenn das der einzige Weg in meinem Leben gewesen wäre, durch den ich so geworden wäre, wie ich heute bin, würde ich den nicht missen wollen.

Aziz (55 Jahre) Interview vom 15. Mai 2015

Sylvia: Wann hat Selbstverantwortung in deinem Leben angefangen eine Rolle zu spielen? Kannst du dich daran erinnern?

Aziz: Seit ich klein war, so mit 6 – 7 Jahren habe ich dieses Gefühl gehabt. Ich bin in Dakar, der Hauptstadt vom Senegal geboren. Ich habe mich schon so früh selbstverantwortlich gefühlt, weil ich nicht mit meiner Mama und meinem Papa aufgewachsen bin, sondern bei meinem Onkel.

Sylvia: Wie kam das?

Aziz: Das gehört zur Kultur im Senegal, dass du deinen Sohn einem Bruder oder einer Schwester geben kannst.

Sylvia: Weil die Bedingungen dort vielleicht besser waren?

Aziz: Nicht unbedingt. Bei mir war das so, dass mein Großvater mir seinen Namen gegeben hat. Also trage ich den Namen von meinem Großvater mütterlicherseits und meine Großeltern wohnten bei meinem Onkel. Daher wurde ich dort abgegeben.

Sylvia: Du hast ja noch Geschwister. Warst du das einzige Kind, das weggegeben wurde?

Aziz: Meine sechs Geschwister sind bei meinen Eltern aufgewachsen. Als ich zu meinem Onkel kam, war ich fünf und nach zwei Jahren bin ich in die Schule gekommen Und seitdem habe ich mich für mein Leben selbstverantwortlich gefühlt (lacht).

Sylvia: Waren denn deine Großeltern und dein Onkel und deine Tante so etwas wie Elternersatz für dich?

Aziz: Doch, doch. Manchmal sogar übertrieben, in dem Sinne, sie wollten mir alles geben. Aber zu dieser Zeit hatte ich das Gefühl, ich bin alleine, aber auch nicht alleine, als Sohn meiner Eltern, die aber nicht da waren. Daher musste ich mein Leben selbst in die Hand nehmen.

Sylvia: Ich versuche mir das gerade vorzustellen. Hast du eine Eltern ab und zu besucht?

Aziz: Ja, ja. In den großen Ferien konnte ich sie besuchen. Aber das war nicht so einfach, ich habe mich gefreut, meine Brüder und Schwestern, meine Eltern zu sehen und wenn ich zurückkam, habe ich mich einsam gefühlt.

Sylvia: Das kann ich mir vorstellen. Das ist wirklich schwer.

Aziz: Ja (lacht), das ist nicht angenehm gewesen.

Sylvia: Wie war es für dich in der Schule?

Aziz: Die Schule war für mich ein Ausweg. Da hatte ich Freunde,- das war wie Freiheit. Nachdem man die Schule beendet, besucht man das Kollege, das habe ich ganz normal abgeschlossen. Danach habe ich noch zwei Jahre bei meiner Familie gelebt, bevor ich 1982 nach Frankreich gegangen bin. Leider habe ich in dieser Zeit meine Mutter verloren. Das heisst wir haben nie richtig zusammen gelebt.

Sylvia: Das ist traurig.

Aziz: Ja, das ist sehr traurig. Ich hatte mich gefreut, gedacht, jetzt geniesse ich richtig, mit meiner Mama zu sein, aber dann hatte sie einen Autounfall und ist gestorben. Das war natürlich sehr schmerzhaft.

Sylvia: Du bist dann nach Frankreich gegangen, um zu studieren?

Aziz: Zum Studieren, aber ich habe mein Studium nicht zu Ende gebracht, ich habe gejobbt. Dann habe ich 1983 in Paris eine Frau kennen gelernt, mit der habe ich fast ein Jahr in Brüssel gelebt. Später 1988 bin ich nach Berlin gekommen und habe dann nach einem Jahr mein erstes Unternehmen gegründet. 1993 habe ich eine Disco aufgemacht und ein Jahr danach eine Boutique in Schöneberg.

Sylvia: Also hast du immer wieder was unternommen.

Aziz: Ja, das war wie ein Fieber, ist damals gut gelaufen.

Sylvia: Ich möchte noch Mal auf deine Kindheit zurückkommen. Wie denkst du, hat dich dieses Schicksal fern von deinen Eltern aufzuwachsen geprägt für dein weiteres Leben?

Aziz: Das war auf der einen Seite natürlich traurig, ich habe mich einsam gefühlt. Aber es hat mir auch einen starken Charakter, ein starkes Gefühl gemacht. Was geschafft werden muss, muss von mir geschafft werden, so eine Philosophie – hat mich stärker gemacht, mir Mut geben.

Sylvia: Das war für dich ja eine große Herausforderung.

Aziz: Ja, total. Das hat mir irgendwo geholfen, bis jetzt noch. Wenn ich sehe, welche Entwicklungen meine Geschwister genommen haben, sehe ich den Unterschied.

Sylvia: Wenn hier zulande Eltern ihr Kind weggeben würden, da würde man sagen „Rabeneltern“, das ginge ja gar nicht.

Aziz: Deswegen will ich meinen Kindern alles geben, und obwohl ich meine Erfahrung ja positiv bewerte, würde ich sie nie, nie irgendwo hin geben (lacht).


Interview Kevin (38 Jahre) vom 16. April 2015

Sylvia: Welche Bedeutung hat Selbstverantwortung für dein Leben, und wann in deiner Biographie hat sie angefangen eine Rolle zu spielen?

Kevin: Selbstverantwortung, was das für mich bedeutet?

Sylvia: Ja, ganz konkret für deinen Lebenslauf.

Kevin: Selbstverantwortung bedeutet ganz viel für mich, die ist ganz wichtig. Selbstverantwortung bedeutet für mich, ich nehme mein Schicksal in meine eigenen Hände. Ich bestimme, in welche Richtung ich gehe. Wie ich mich entwickelt habe. Selbstverantwortung heisst, Entscheidungen zu treffen.

Sylvia: Wann wurde dir das bewusst, wann hast du das gespürt, in welchem Alter?

Kevin: Relativ früh, muss ich sagen. Das war so zwischen 15 und 17 Jahren, also besonders mit 16, da hat sich mein Vater von meiner Stiefmama getrennt und in einem anderen Bundesland von Jamaika gearbeitet, und ich blieb alleine zu Hause.

Sylvia: Ganz allein?

Kevin: Ganz allein! Und ich musste zur Schule gehen und mir mein Frühstück machen und pünktlich in der Schule sein, mir Essen machen. Ich musste mein eigenes Leben gestalten.

Sylvia: Wie war das? War das sehr schwer?

Kevin: Es war nicht perfekt. Es gab Momente, da kam mein Vater von der Arbeit, und das Haus war chaotisch, nicht richtig aufgeräumt. Da hat er geschimpft. Das war mein großes Defizit. Aber ansonsten, was ich für Freunde habe, wer darf in das Haus, ob ich meine Hausaufgabe gemacht habe, das habe ich meiner Meinung nach gut gestaltet, angesichts der Umstände.

Sylvia: Was haben die anderen aus der Familie dazu gesagt, fanden die das okay?

Kevin: Das war okay, hatte sich so ergeben, Schicksal, sozusagen. Gut, mein Onkel von meines Vaters Seite, ist ab und zu vorbeigekommen, mehr nicht.

Sylvia: Was hat deine Mutter gesagt, die lebte ja schon in Florida?

Kevin: Sie wusste schon, dass ich da alleine bin. Für sie war das okay, weil,- ich bin ein Mann, ich muss wissen, wie das funktioniert.

Sylvia: Da hat sie dir doch einiges zugetraut?

Kevin: Ja. Das ist halt Jamaika.

Sylvia: Meinst du, das ist ein kultureller Unterschied zu hier, dass Kinder früher selbständig werden?

Kevin: In Jamaika sind Kinder früher in Selbstverantwortung, einfach aufgrund der Sozialökonomie. In Jamaika spielen Armut und Kriminalität eine große Rolle. Da kann man schon mit dem eigenen Leben bezahlen, das heisst, ich komme nach Hause, gehe ins Bett, ohne die Tür abzuschließen, und dann wirst du überfallen, das passiert. Da muss man bewusst damit umgehen, mit wem bin ich befreundet?

Sylvia: Das ist ja immer das, was Eltern hier besorgt macht, sie wollen die Kinder immer sehr beschützen.

Kevin: Ja, das ist das Ding. Hier werden sie sehr viel beschützt, nach meiner Meinung, zu viel, aber hey, das ist auch okay, es funktioniert. Aber in manchen Krisensituationen werden die Kinder hier nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen.

Sylvia: Ja, weil sie nicht daran gewöhnt sind.

Kevin: Ja, weil sie nicht daran gewöhnt sind. In Jamaika gibt es Konfrontationen direkt vor deinem Gesicht. Auf einer Party gab es zum Beispiel eine Schießerei, oder Feuer im Haus.

Sylvia: Wann bist du eigentlich nach Deutschland gekommen?

Kevin: Ich bin jetzt fast – o Gott – 19 Jahre in Deutschland, unglaublich. Als ich herkam hatte ich zum Glück meine Tante, die ist mit einem Deutschen verheiratet, und sie haben mir Halt gegeben und Sicherheit. Das war gut.

Sylvia: Diese frühe Erfahrung, selbst für dich verantwortlich zu sein, hat die dein Leben leben später bestimmt, was denkst du?

Kevin: Ja.

Sylvia: Was denkst du, ist anders dadurch?

Kevin: Ich bin flexibel geworden. Ich habe aus eigener Kraft mein Leben gestaltet, bin selbstüberzeugt geworden. Ich habe Durchhaltevermögen bekommen, weil ich weiß, wie Scheitern aussieht, was für Konsequenzen das hat. In Jamaika heisst Scheitern, du bist abgestiegen in deinem Lebensniveau, da gibt es kein Sozialnetz, um dich aufzufangen. Und ich bin nach Deutschland gekommen und habe gesehen, wer nach den Regeln spielt, wer sich anpasst, hat eine Chance nach oben zu kommen. Ohne wenn und aber, unabhängig von der Hautfarbe, der Herkunft, der Religion. Wer fleissig ist, sich Mühe gibt, hat eine Chance. Und die lasse ich mir nicht entgehen.

Sylvia: Was könntest du deutschen Eltern raten, in Hinblick auf Selbstverantwortung? Die möchten ja gerne, dass ihre Kinder Selbstverantwortung übernehmen, aber man lernt es ja nicht, weil jemand es sagt, sondern indem man es tut.

Kevin: Genau, indem man es tut und nicht, indem man sich auf den Staat oder die Lehrer verlässt. Sondern die Eltern müssen ja wissen, ist etwas kontraproduktiv für das eigene Kind oder nicht. Ich gucke mich selbstkritisch an, wie ich meine eigene Tochter erziehe. Ich habe eine konservative Einstellung, was nicht sein muss.

Sylvia: Du meinst, ihr mehr Luft geben.

Kevin: Ja, mehr Luft geben, aber anwesend sein.

Interview Irene (90 Jahre) vom 19. April 2015

Sylvia: Was bedeutet der Begriff Selbstverantwortung für dein Leben, für deine Entwicklung?

Irene: Selbstverantwortung ist in mein Leben fest integriert. Es war etwas ungewöhnlich, dass meine Eltern uns – ich war die Jüngste und hatte noch drei Brüder, dass meine Eltern uns sehr viel Eigeninitiative überlassen haben, was ja in anderen Familien nicht so der Fall war. Meine Eltern waren sehr tolerant, manche meinten sogar zu gutmütig, die dachten das sei Schwäche, ist es aber nicht, sondern eine gewisse Lebensanschauung. Wir waren auf dem Land und konnten viel machen, was die Stadtkinder überhaupt nicht machen konnten. Es war ein Leben im Freien, und das Wort sagt ja alles, und wir kriegten ganz viel von der Natur mit.

Sylvia: Ihr wart nicht dauernd unter Kontrolle, wurdet nicht überwacht….

Irene: (lacht) So gut wie nie unter Kontrolle. Sie gestanden uns zu, dass wir na ja, nicht das Richtige machten, aber doch einigermaßen vernünftig handelten.

Sylvia: Aber du musstest ja die Schule besuchen und Hausaufgaben machen, wie war das?

Irene: Ja also, ich hatte wenig Schwierigkeiten in der Schule, jedenfalls bis zum Abitur, danach hatten meine Brüder und ich Schwierigkeiten mit Fremdsprachen, aber ich habe das dann gut hingekriegt. Und meine Brüder später auch mit Unterstützung einer Förderschule.

Sylvia: Was, denkst du, hat noch zu deiner persönlichen Entwicklung beigetragen?

Irene: Wie ich schon sagte, war es sehr prägend, dass ich so frei aufwachsen konnte. Das habe ich sehr geschätzt. Aber dann merkte ich, dass unter der NS Staatsführung unser Leben völlig unter Kontrolle, unter Befehle und Verbote geriet, und wir konnten alle nicht mehr tun, was wir wollten. Und dann kam ja der Krieg. Und später, in der DDR ging die Bevormundung unter anderen Vorzeichen weiter. Als ich das begriff, auch das ich beruflich dort keine Chance hatte, inzwischen hatte ich tüchtig Englisch und Französisch gepaukt, da bin ich schwarz über die grüne Grenze gegangen, nach Hamburg und habe dort ein neues Leben versucht und mehr oder weniger ist mir das dann auch gelungen. Auch wenn ich manchen Umweg oder Irrweg gegangen bin, und das halte ich mir zugute, dafür habe ich nicht anderen die Schuld gegeben, sondern immer gedacht, das ist meine eigene Schuld, ich muss daraus lernen

Sylvia: Das ist ja doch sehr interessant, dass wir von Schuld sprechen, statt von Verantwortung, hinterher ist man ja immer klüger.

Irene: Ja, das stimmt. Was mich auch geprägt hat, war, dass mein Großvater Wissenschaftler war, der mehrere Forschungsreisen in zum Teil abgeschiedene Gegenden machte. Als meine Mutti 18 Jahre alt war, also noch vor dem ersten Weltkrieg, durfte sie ihn ein Mal auf einer seiner Reisen rund um den Globus begleiten und ihre Erzählungen waren sehr interessant für uns Kinder. Ich bin auch viel in meiner Fantasie gereist und hatte immer großes Interesse an der großen weiten Welt.

Sylvia: Jetzt habe ich noch eine Frage: Wie hat dich Deine eigene Kindheit in Freiheit geprägt in Bezug auf die Erziehung deiner eigenen zwei Kinder.

Irene: Ja, meine Tochter, die ja in den USA lebt, hat mir gerade, als wir telefonierten, gesagt, Mamma, du bist für mich in jeder Hinsicht ein Vorbild, weil du so tolerant bist und mich hast gewähren lassen, auch wenn ich mal falsch lag, aber du hast mich zum denkenden und vernünftig handelnden Mensch gebracht.

Sylvia: Das ist ja wunderbar zu hören.

Irene: Ja, das muss ich auch sagen, da war ich ganz gerührt und glücklich, weil man mir immer sagte, dass ich zu viel lächele und alles zu tolerant angehe. Aber das war meine Art, dem Schicksal nicht mit Kampf, sondern mit Entgegenkommen entgegen zutreten. Die Pflegerinnen sagen mir öfter, dass sie so gerne zu mir kommen, weil ich eine positive Haltung habe, und sie sich bei mir ein bisschen ausruhen und regenerieren können. Da können sie auch mal jemandem ihren Ärger oder Druck anvertrauen.. Das ist natürlich eine gute Sache für die und mir macht es auch Freude.

Sylvia: Na klar, das ist ja dann etwas Gegenseitiges. Das vergessen wir Menschen gerne. Weil wir so in Einbahnstrassen denken.

Irene: Ja genau, das eine bewirkt das andere.

Herr B. (83 Jahre) Interview vom 11. Februar 2015

Sylvia: Was für eine Bedeutung hat dieses Wort Selbstverantwortung für Ihre Biographie?

Herr B.: Früher kannte man diesen Begriff Selbstverantwortung ja gar nicht. Aber das, was im Prinzip darin enthalten ist, nämlich dass ich für meine Gedanken und Handlungen zuständig bin und dafür gerade stehen muss, das ist etwas, was ich einfach in unserer Familie gelernt habe.

Sylvia: Was genau meinen Sie damit?

Herr B.: Unsere Eltern waren wirklich große Vorbilder für uns, wir haben uns sehr geliebt, und wir haben eine sehr harmonische Kindheit genossen, das bestimmt nicht jeder von sich behaupten kann und wir sind auch immer alle zusammen gewesen, Ausnahme im Krieg, da waren wir zeitweilig getrennt. Da war ich 12 Jahre alt, da ist meine Mutter mit mir und meiner Schwester zusammen aus Berlin evakuiert worden in die Mark Brandenburg zu Verwandten. Mein Vater blieb in Berlin, der musste ja weiter arbeiten und ist auch noch verschüttet gewesen. Unsere Wohnung ist dann durch Bombenangriffe kaputt gegangen.

Wir, damit meine ich meine Schwester und mich, wir sind da einfach hinein gewachsen, in die Art zu handeln und zu denken, dass man für seine Sachen verantwortlich ist und selbst was tun muss. Wir hatten sehr starke Anregungen von den Eltern, sind aber nie „stranguliert“ worden, nicht in dem Sinne erzogen, haben aber unser Leben sehr früh selbstverantwortlich geregelt, ob es beruflich oder privat war, das ist gar keine Frage gewesen.

Sylvia: Hatten Sie das Gefühl, dass andere Menschen in Ihrem Umfeld auch so dachten und so eine Haltung entwickelt haben?

Herr B.: Also die von meiner Generation, die den ganzen Krieg miterlebt haben, ja, mit Flucht vor den Russen, da liegen auch die weiteren Wurzeln. Auf der Flucht haben wir ja allerlei erlebt, keine schönen Sachen. Da bin ich so massiv mit dem Tod konfrontiert worden, so was verlässt einen ja nicht mehr.

Sylvia: Wie haben Sie das verarbeitet und dann später dennoch ein gelingendes Leben geführt?

Herr B.: Ich denke dadurch, dass wir immer wieder in der Familie aufgefangen wurden und soviel Liebe und Zuwendung gefunden haben, dass wir trotz alledem behütet aufgewachsen und eben hineingewachsen sind in solche Verantwortung für uns.

Sylvia: Und wie war das dann in den mageren Jahren nach dem Krieg?

Herr B.: 1945 sind wir dann bei den Großeltern untergekommen in Pankow, sind in die Schule gekommen und mussten russisch lernen. Sie können sich nicht vorstellen, wie froh wir waren , dass der Krieg vorbei war, das war eine unglaubliche Erleichterung, was wir für Freude hatten, nur wegen der Tatsache, dass der Krieg vorbei war, das kann sich keiner vorstellen! Man kann endlich was für sich selbst tun. Ich ging dann plötzlich gerne zur Schule, habe mein Abitur mit Auszeichnung bestanden. Dann habe ich mein Studium absolviert. Ich wollte einfach lernen, das hat mir soviel Spass gemacht.

Sylvia: Da muss ich ja gar nicht groß nachfragen, das ist ja glasklar, dass Sie hochmotiviert waren.

Herr B.: Das schöne Leben weiterleben, nicht das materielle, sondern das familiäre. Die Ereignisse waren es, erst die schlimmen, dann die angenehmen., einfach weiterleben. Das ist doch eine unglaubliche Geschichte. Ja, das ist mir jetzt nochmal so klar geworden. Ich habe auch meinen beruflichen Werdegang nochmal abgearbeitet, das ist genau dieselbe Geschichte. Lernen wollen, was werden wollen. 1970 habe ich mich selbständig gemacht, habe eine Beratungsfirma aufgemacht, Managementberatung.

Sylvia: Sie haben ja dann auch eine Tochter bekommen.

Herr B.: Die ist auch so selbstverantwortlich geworden, aber ohne dass ich da viel gemacht habe.

Sylvia: Wie beurteilen Sie den Unterschied der Gesellschaft, das Denken war anders? Heute leben wir, verglichen mit den Zeiten, die Sie erlebt haben, ja geradezu im Paradies.

Herr B.: Ja, aber die Menschen haben den Vergleich nicht, die wissen das nicht. Die finden das heute auch schlimm. Früher wurde etwas mutiger und konstruktiver gearbeitet, heute ist man da eher etwas wehleidig. Was mir in meinem Leben immer sehr geholfen hat, ist mein Humor

Barbara ( 62 Jahre) Interview vom 23. Januar 2015

Sylvia: Was bedeutet für dich das Wort Selbstverantwortung? Was für Assoziationen hast du so ganz spontan:

Barbara: Ich denke in der Selbstverantwortung liegt eine ganz enorme Kraft für jeden Tag, den Alltag und was mich an dem Wort fasziniert ist, dass da das Wort Antwort drin ist: Nicht die anderen fragen, sondern mir selbst Antwort geben auf die Fragen, die ich habe. Sei es, was ich heute anziehe oder wie ich meine beruflichen Pläne voran bringe. Die Antworten liegen einfach in mir selber. Und das mal zu kapieren.

Sylvia: Ja, das ist wunderbar, aus dieser Perspektive habe ich es noch gar nicht gesehen, das betont die eigene Autonomie.

Barbara: Ja, genau.

Sylvia: Und welche Bedeutung hatte dieser Begriff Selbstverantwortung, diese Haltung für dein Leben? Wann wurde es spürbar für dich?

Barbara: Ich hatte sehr früh geheiratet, sehr früh Kinder gekriegt, habe aber die Verantwortung für mein Leben nicht mehr gespürt. Habe mich dann von meinem Mann getrennt, wir waren 7 Jahre getrennt, ich habe mich aber immer noch sehr verbunden gefühlt. Im Geheimen habe ich schon daran gedacht, wie es wäre, wenn wir wieder anfangen, aber von außen – Stimmen von Freunden, Experten und so weiter meinten, kalter Kaffee, das bringt doch nichts, eine Beziehung wiederaufzuwärmen, da habe ich es lange nicht zugelassen. Bis ich irgendwann darauf kam, zu denken: Und wenn ich es einfach mache, obwohl alle sagen, es funktioniert nicht?

Sylvia: Was genau hat dann zu deiner Entscheidung geführt?

Barbara: Ich habe angefangen, die Antwort in mir zu suchen, da ist dann eine Kraft in mir gewachsen, so eine neue Gewissheit und weil ich gemerkt habe, es ist immer noch diese Verbundenheit da, deshalb hat mich diese Option nicht losgelassen. Ich habe dann einfach gemacht! Dieser Satz ist später eine Art „Bonmot“ geworden, einfach machen und nicht auf die anderen hören. Ich stehe dann dafür gerade. Daraus folgend habe ich mir klar gesagt, nicht der Partner ist für mein Glück da, sondern ich habe die Verantwortung für mein Glück selber und kann auf meiner Bühne weitgehend Regie führen.

Sylvia: Wie lange hat es gedauert, bis du zur Umsetzung geschritten bist?

Barbara: Das ging dann sofort. Und das war zu Anfang nicht so einfach, und ich habe mir dann vorgenommen, dass ich diese Entscheidung einfach nicht mehr in Frage stelle und auch die Verantwortung dafür übernommen. Das hat mich unglaublich erleichtert, weil die erste Zeit war wirklich nicht einfach. Ich war dann gleich schwanger, aber mir keine Zweifel mehr zu erlauben, fühlte sich unglaublich gut an. Jetzt nach 27 Jahren kann ich sagen, dass wir immer glücklicher werden. Wir wissen, jeder hat die Verantwortung für sich. Das heisst ja nicht, dass ich nicht gucke, wenn es ihm schlechtgeht und umgekehrt.

Selbstverantwortung heisst nämlich nicht, egoistisch sein, eigentlich heisst es, aus wirklicher Liebe gesteuert zu sein, die kommt aus mir und die geben mir nicht die anderen. Du siehst, ich kann mich da richtig reinreden.